:Der jüngste Sohn einer Großfamilie erfüllt sich gerade einen Traum. Das Fliegen faszinierte ihn früh und darum kreist seither sein Denken. Und für seinen Traum nimmt er einiges in kauf.
Anstatt nach dem Abitur auf eine mittelgroße Weltreise zu gehen, fand er sich im Sommer 2024 in einer bayerischen Bundeswehrkaserne zur Grundausbildung ein. Es wird noch einige Zeit dauern, bis er dort sitzen darf, wo er sitzen möchte – im Cockpit eines Kampfflugzeuges. Das kann der Eurofighter sein, eines der besten Flugzeuge der Welt, das kann die F 35 mit Tarnkappentechnik sein.
Die Tochter von Bekannten hat gerade Halbzeit in ihrem freiwilligen sozialen Jahr, das sie in einem Berliner Krankenhaus absolviert. Sie war sich unsicher, ob ihr das Medizinstudium liegen würde. Jetzt weiß sie es. Das Jahr ist nicht verloren, sondern gewonnen.
Rund 50 000 junge Frauen und Männer absolvieren derzeit ein freiwilliges soziales Jahr. Rund 11 000 junge Männer und Frauen gehen aus eigenen Stücken Jahr für Jahr zur Bundeswehr. Die Gründe sind individuell verschieden, mehr weiß man nicht. Es gibt keine detaillierte Studie, warum sich die einen dafür entscheiden und andere nicht. Mehr Kenntnis aber wäre dringend nötig für die Debatte, was die Gesellschaft erwarten kann und womit die Bundeswehr rechnen darf.
Da es an Fakten fehlt für die Belange der Bundeswehr, darf eifrig spekuliert werden. In einer ARD-Talkshow über Bundeswehr und Kriegsgefahr saß neulich Heidi Reichinnek. Mit bebender Stimme berichtete die Vorsitzende der Linken von jungen Menschen, die Angst davor hätten, in die Bundeswehr gezwungen zu werden, wenn in Deutschland wieder Wehrpflicht gelte. Dazu zitierte sie Schätzungen, dass 80 Prozent der deutschen Jugendlichen den Dienst an der Waffe ablehnten. Sie schien bereit zu sein, diesen Dissidenten Exil zu gewähren, wenn sie der Staat bedroht.
In der Runde saß auch Carlo Masala, der an der Universität der Bundeswehr lehrt. Er lachte über Reichinneks Pathos und sagte, 20 Prozent eines Jahrgangs seien mehr als genug für die reformierte Bundeswehr. Das stimmt, mehr würde sie momentan auch nicht logistisch verkraften. Verteidigungsminister Boris Pistorius wird ab 2027 rund 600 000 junge Menschen befragen lassen, ob sie ein freiwilliges soziales Jahr leisten wollten. Dabei erhofft er sich eine Anzahl von 23 000 Rekruten im ersten Jahr.
In solchen TV-Runden sitzen fast immer die üblichen Verdächtigen, fein säuberlich aufgeteilt in Dafür und Dagegen. Sie interpretieren, was die jungen Menschen denken, was sie bewegt, warum sie zum Bund gehen oder nicht. Nur das Naheliegende bleibt aus: Die jungen Menschen selber kommen selten zu Wort.
So ist das regelmäßig, wenn in den Parteien und Parlamenten über Großprobleme mit weitreichenden Folgen geredet wird. Es wird über diese jungen Menschen gesprochen, nicht mit ihnen. Es ist aber ihre Zukunft, über die verhandelt wird.
Die Folge ist eine gedankliche Engführung, die von den politischen Interessen der Parteien her rührt. So entstand die untaugliche Idee, dass ein Losverfahren der ideale Kompromiss sein könnte, weil die SPD die Wiederaufnahme der Wehrpflicht vehement ablehnt, während die Union sie für notwendig erachtet.
Ab und zu tauchen sogar echte junge Menschen bei Straßenbefragungen von ARD oder ZDF auf. Dann wird es interessant, denn mit einiger Selbstverständlichkeit wird dann ein Gesellschaftsdienst für beide Geschlechter erwähnt – verpflichtend, nicht freiwillig. So ein soziales Jahr würde den Gemeinschaftssinn und die Solidarität stärken.
Nicht zufällig nahm der Bundespräsident diesen Leitgedanken auf: „Ich bin überzeugt, dass eine soziale Pflichtzeit eine verbindende Erfahrung in einer Gesellschaft der verschiedenen Lebenswege ermöglicht.“
Als die Regierung Merkel im Jahr 2011 die Wehrpflicht aussetzte, kam die Überlegung zu kurz, welche gesellschaftlichen Folgen daraus erwachsen könnten. Wer rund um die Wiedervereinigung geboren wurde, war seither von jedem Dienst an der Allgemeinheit befreit. Von da an war es eine persönliche Entscheidung, ob die jungen Menschen nach dem Abitur ein Jahr chillen wollten, fremde Kontinente aufsuchten oder eben Grundwehrdienst leisteten.
Im Normalfall ist die Bundeswehr ein Ort, an dem sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Bildung zu einem gemeinsamen Zweck versammeln. Auch das Sportstadion stiftet eine gewisse Gemeinsamkeit. Aber sonst?
Im Poesie-Album der Demokratie findet sich der schöne Satz von John F. Kennedy: „Frag nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern was du für den Staat tun kannst.“ Nun klingen heutzutage Sätze, in denen der Staat als normative Kraft vorkommt, ziemlich ungewohnt. Im Gegenteil ist spätestens seit der Pandemie die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat ins Maßlose gewachsen. Er soll gefälligst unsere Wünsche erfüllen und nicht in unsere Freiheit eingreifen, so lautet die Botschaft.
Die Bundeswehr übt eine soziale Funktion aus, keine Frage. Sie gewinnt an Bedeutung durch den „Aufwuchs von Personal und Infrastruktur“, wie es in ihrem Jargon heißt. Ihr eigentlicher Zweck aber liegt anderswo. Ihn zu erwähnen, ist nicht einfach, wie man an Boris Pistorius studieren kann.
Er sagt schon lange nicht mehr freimütig, die Bundeswehr müsse kriegstüchtig werden. Dieser Auftrag ist zwar plausibel, denn ohne reale Gefahr wäre die Zeitenwende nur leeres Gerede. Aber Pistorius’ Partei, die SPD, möchte nicht an den Zweck der Aufrüstung erinnert werden und die Union hält sich zurück, auch wenn sie einen Krieg in absehbarer Zeit für möglich hält. Denn wenn es wirklich so weit kommen sollte, dann stehen die Soldaten und Soldatinnen im Feuer. Und im Krieg sind sie es, die ihr Leben verlieren können – zu Land, zu Wasser und in der Luft.
Veröffentlicht auf t-online.de , heute.,