Geh nicht zu weit, wir brauchen dich

Zehn Jahre ist es her, dass dieser Satz fiel: Wir schaffen das. Mir gefiel er damals. Aus ihm sprach Humanität und er zierte die deutsche Bundeskanzlerin, die für Sentimentalität  nicht bekannt war. Er löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus, bei der das, was wir die Zivilgesellschaft nennen, die Geflüchteten mit dem Nötigsten ausstatteten und ein freundliches Bild der Deutschen draußen in der Welt vermittelten, das ungewohnt war. Niemand hätte damals für möglich gehalten, dass daraus eine nationalkonservative Partei erstehen könnte, die unsere Demokratie mit Verachtung straft.

Heute wissen wir, dass damals die Gegenfrage ausblieb: Wie schaffen wir das? Und wer seid ihr, die da jetzt da plötzlich hier sind? 

Überhaupt finde ich, dass über die Jahre eine bestimmte politische Feinarbeit verloren gegangen ist. Willy Brandt beherrschte diese Dialektik noch: Wandel durch Annäherung praktizierte seine Entspannungspolitik und richtete sich auf lange Sicht ein. Helmut Schmidt erfand Ender der 1970er Jahre den Nato-Doppelbeschluss, der darauf hinauslief: Stellt ihr eure SS-20-Raketen auf, stellt das atlantische Bündnis seine neuen Mittelstreckenraketen auf. Auch Gerhard Schröders Agenda 2010 verband Reformen auf dem Markt mit Reformen in der Sozialpolitik.

Leider blieb diese Doppelspiel der Langzeitkanzlerin Angela Merkel fremd. Deshalb überließ sie es erst einmal den Ländern und den Behörden, mit 1.091.894 Geflüchteten im Jahr 2015 fertig zu werden. Im Jahr darauf entstand das Abkommen mit der Türkei, das die Zahl der Geflüchteten denn auch wirklich dramatisch reduzierte. Es hielt aber nur bis ins Jahr 2020. 

Es hätte länger halten können, länger halten müssen. Die Türkei versprach sich von diesem Abkommen Annäherung an die Europäische Union, was legitim war. Dann aber kam dieser seltsame Putsch im Jahr 2017, den Präsident Recep Tayyip Erdogan zum ziemlich brutalen Umbau der Demokratie in eine Autokratie nutzte. Die EU, obwohl sie auf die Hilfe der Türkei bei der Kontrolle über die Einwanderung angewiesen war, bedeutete  Erdogan: So nicht, so wollen wir dich nicht in unserem Klub haben. Deshalb verlor er das Interesse am Abkommen.

Wenn es aber deutschen Bundeskanzlern möglich gewesen war, Verträge mit der Sowjetunion und deren Verbündeten mitten im Kalten Krieg zu schließen, wäre es doch auch angebracht gewesen, stärkeren Einfluss auf den Nato-Partner Türkei auszuüben – zum Beispiel mit der Botschaft: Geh nicht zu weit, wir brauchen dich und die EU steht dir im Prinzip offen, aber halte dich an unser Abkommen und die Grundregeln der Demokratie.

Das dialektische Doppelspiel blieb aber damals aus. Vor allem aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass der deutsche Moralismus damals den deutschen Interessen in die Quere kam.

Zur Wahrheit gehört, dass es auch die anderen Länder der Europäischen Union an Solidarität fehlen ließen. Jeder wollte ab 2015 seines machen, jeder hielt seine Grenzen dicht, jeder freute sich darüber, dass die Geflüchteten nach Deutschland strebten und ließ sie gerne durchziehen. Jeder der damals noch 28 Staaten hätte eine gewisse Zahl an Geflüchteten aus den türkischen Lagern aufnehmen müssen, dachte aber nicht daran. Deutschland und Frankreich hätten in jenen Tagen erheblich mehr Druck auf die Abtrünnigen ausüben müssen, was sie aber nicht taten. Den Schaden haben heute alle.

In England jagt Nigel Farage, der den Brexit organisierte, die Labour-Regierung vor sich her. In Österreich stellt die rechte FPÖ schon jetzt die stärkste Fraktion im Parlament. In Frankreich lauert Marine LePen und der Rassemblement National auf ihre Chance nach Emmanuel Macron. In Polen kämpft Donald Tusk fast verzweifelt gegen die Wiederkehr der antieuropäischen Nationalkonservativen. 

Die Parteien der Mitte haben sich in vielen Ländern unglaubwürdig gemacht, weil sie Versprechungen eingingen, die sie nicht einhalten konnten. Mitten in diesem Experiment befindet sich gerade die Regierung Merz/Söder/Klingbeil, die ihre Abwehr illegaler Einwanderung besonders an der Grenze  zu Österreich organisiert und Straftäter auch nach Afghanistan ausfliegt. 

Es sieht nicht danach aus, als ob sich auf diese Weise die Kontrolle über die Immigration zurückgewinnen lässt. Entscheidend sind nach aller Erfahrung die Außengrenzen. Und wirksam war nun einmal das Abkommen mit der Türkei.

Auf Dauer kommt die deutsche Bundesregierung gar nicht daran vorbei, über ein neues Abkommen nachzudenken. Sie muss sich das dialektische Denken angewöhnen.

Die europäische Rechte ist da schon weiter. Mit Faszination schaut sie nach Amerika, was sich dort ereignet. Ihr Modell ist Donald Trump radikaler Umgang mit illegalen Einwanderern. Vermummte Beamte aus dem Heimatschutzministerium und dem FBI greifen auf den Straßen der Städte zu, führen sie ab und fliegen sie nach El Salvador oder Guantanamo aus oder stecken sie in Übergangslager. 

In Österreich und Deutschland redet die Rechte von Remigration, womit die Entfernung der Eingewanderten gemeint ist. Der amerikanische Präsident macht vor, wie Remigration aussehen kann.

Zehn Jahre her ist es, dass Angela Merkels schöner Satz fiel. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Deutschland hat sich in dieser Spanne verändert, die Demokratie ist ins Schlingern geraten, sie steckt in Legitimationsproblemen. Die Regierung Merz/Söder/Klingbeil ist die letzte Koalition der Mitte in Europa, die Kontrolle durch Kompetenz zurückgewinnen will. Dreieinhalb Jahre bleiben ihr zu erreichen, woran etliche andere europäischen Länder so gut wie gescheitert sind.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.