Mesut Özil, das Genie, hört auf

Mesut Özil hört auf, habe ich gelesen. Von ihm kam noch keine offizielle Verlautbarung, wonach er sich aus dem Fußballsport zurückziehen wird. Es passt zu ihm, dass er sich nicht äußert oder mit Verspätung oder eben erst dann, wenn er es für nötig befindet.

Ich habe ihm anfangs ungläubig, dann mit Staunen und, als ich mich an sein Ingenium gewöhnt hatte, voller Neugierde zugeschaut. Er war der erste deutsche Fußballspieler, der Räume sah, die kein anderer sah. Er führte den Ball am linken Fuß, schob ihn mit dem Außenrist knapp am Gegenspieler vorbei, so dass der wie ein Tölpel aussah, und schon war ein Mitspieler in den freien Raum gestartet, zog den Ball mit und wie aus dem Nichts war eine Chance entstanden.

Mesut Özil fing bei RW Essen und bei Schalke 04 an. Den Schalkern müssen die Tränen kommen, wenn sie daran denken, dass ihr Verein seinen Vertrag nicht verlängern wollte. Damals konnte sich Rudi Assauer solche Kapriolen leisten. Schalke war gut, spielte Champions League und ein aggressiver Berater, Özils Vater, prallte mit seinen Forderungen an der Selbstgefälligkeit der Vereinsführung ab.

Dann zwei Jahre in Bremen, Werder wurde wie Schalke im Jahr zuvor Vizemeister, und dann Real Madrid. 15 Millionen Ablöse, ein Schnäppchen nach heutigen Kriterien. Erste Saison: 36 Spiele, 6 Tore, 19 (!) Vorlagen. Im Tor stand Casillas, Ramos spielte in der Innenverteidigung, Xabi Alonso im defensiven Mittelfeld mit Sami Khedira, im Sturm CR 7, Benzema, di Maria. Mourinho war Trainer.

Mesut Özil war ein scheuer Mensch, schüchtern, in sich gekehrt. Manches gab sich mit dem Erfolg. Was blieb, war das Erratische, das sich psychologisch als Korrelat zu seiner Genialität verstehen lässt. Sein Elixier war das Unberechenbare, dieses Aufblitzen, der Pass, den keiner kommen sah, nur irgendein Mitspieler, der im Training ein Gespür dafür bekommen hatte, dass Mesut wie eine Vision einen leeren Raum öffnete und eine Chance kreierte und eine Hintermannschaft mit einem sanften Pass schachmatt setzte.

Natürlich erweist sich im Rückblick die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien als der Höhepunkt seiner Karriere. Toni Kroos war das Metronom, Özil der Schöpfer feiner Chancen und wieder ein überaus mannschaftsdienlicher Spieler, was gerne vergessen wird. Südafrika vier Jahre später: der Tiefpunkt. Das Foto: Gündogan und Özil mit Erdogan. Das vom DFB orchestrierte Fußball-Deutschland machte Mesut Özil zum Sündenbock, zum Schuldigen für das erbarmungswürdige Scheitern. An seiner Leistung konnten sie nichts festmachen, also stürzten sie sich auf seinen Charakter. Das Stille erschien ihnen als Provokation. Das Schüchterne als Arroganz. Die Melancholie, die ihm eigen war, als Gleichgültigkeit.

Medien können Missgunst und Zorn steuern und sie steuerten die herrschende Niedertracht hin zu Mesut Özil. Der konnte sich nicht wehren, wollte es vielleicht auch nicht. Niemand interessierte sich ohnehin für seine Deutung des Ausscheidens. Manuel Neuer als Kapitän versagte, wie er immer versagt, wenn es darauf ankommt, Stellung für andere zu beziehen, für einen Mitspieler, Stellung auch gegen die tumben Toren vom DFB. Neuer ist der Inbegriff des Jasagers. Erst im Alter, als sein Freund und Torwarttrainer kaltblütig rausgeschmissen wurde, als er in der Reha war, wehrte er sich. Hätte er nur mal früher damit angefangen und vor allem den Mut gehabt, für andere einzutreten.

Was das Anprangern in Özil auslöste, für ihn bedeutete, wüsste ich gerne. Irgendjemand wird irgendwann auf die Idee kommen, mit Özil ein langes Lebensgespräch zu führen und vielleicht erzählt dieser wunderbare Spieler darin von seinem Erleiden fundamentaler Ungerechtigkeit. Bei Arsenal fiel er in Ungnade, ging zu türkischen Vereinen und hoffte wohl darauf, dass ihn die Verehrung wieder zu schönen Spielen inspirieren würde, so dass seine Genialität nochmals zu voller Entfaltung kommen könnte. War nicht so. Stellte sich nicht ein. Wie schade.

Jetzt hat es ein Ende. Ginge es mit rechten Dingen zu, würde Deutschland dem ersten Genie seit Franz Beckenbauer einen Kranz flechten oder wenigstens ein Abschiedsspiel mit einer internationalen Mannschaft organisieren. Ich bin gespannt, ob der Sportdirektor des DFB, der ehrwürdige Rudi Völler, einen Sinn dafür besitzt, dass Deutschland sich etwas Gutes antut, wenn es Mesut Özil ehrt, den Mann, der Räume sah, die gar nicht da waren.