Die russische Armee müsste zuerst taktische Atomwaffen an die Grenze zur Ukraine transportieren und diese logistische Operation würde aller Voraussicht nach den Geheimdiensten auffallen. Es gibt zwar keinen besonderen Grund, der CIA oder der NSA übermäßiges Vertrauen zu schenken, aber im Fall der Ukraine waren die amerikanischen Geheimdienste bisher eine sichere Bank. Als die Europäer sich noch im Glauben wiegten, Wladimir Putin würde die Ukraine ja wohl nicht überfallen, sagten sie die Invasion schon präzise voraus. Dafür sorgen Satelliten am Firmament.
Am besten wäre es natürlich, wenn Gospodin Selbstherrlichkeit seine Drohungen nicht wahrmachen würde, aber wir haben ja gelernt, seine Worte ernst zu nehmen, zumal er gesagt hat, er bluffe nicht. Also müssen wir uns mit dem Undenkbaren befassen, ob wir wollen oder nicht.
Wo es um Nuklearwaffen geht, ist Armageddon nicht weit, die endzeitliche Entscheidungsschlacht, die alles zerstörende Katastrophe. Joseph Biden hat den biblischen Begriff gerade wieder verwendet, als Warnung an Putin, den er gut kenne, wie er auch sagte. Nun können ihm die Nuklearstrategen mit ihrer um verquere Sachlichkeit bemühten Prosa entgegenhalten, es handelt sich um taktische Atomwaffen, die doch nur eingesetzt werden, wenn der konventionelle Krieg stockt.
Der Krieg in der Ukraine stockt aus russischer Sicht nicht nur, sondern zwingt die russische Armee sogar zum teilweisen Rückzug im Osten und Süden. Dazu ist der Krieg, der in der Propaganda zur Spezialoperation verharmlost wird, inzwischen in Russland angekommen, denn die eilige Mobilmachung von 300 000 neuer Soldaten führt zu Aufwallungen und offener Kritik an der Kriegsführung. Der US-Geheimdienst will sogar erfahren haben, dass im innersten Machtkreis Kritik an Putin persönlich geäußert worden sei. Ist das Spekulation oder sitzt da jemand am Tisch, der plaudert?
Atomwaffen sind Atomwaffen. Sie verstrahlen Menschen und Städte. Sie sind der Inbegriff ultimativer Grausamkeit in der modernen Kriegsführung. Vor genau 60 Jahren hat Rationalität auf beiden Seiten Armageddon vermieden, so dass die sowjetischen Schiffe mit Mittelstreckenraketen für Kuba an Bord im letzten Moment umdrehten. Und diesmal?
Die kleinste taktische Atomwaffe besitzt eine Sprengkraft von circa 0,3 Kilotonnen, das ist das Äquivalent von 1000 Tonnen Sprengstoff. 0,3 Kilotonnen sind wenig im Vergleich zu „Fat Boy (Hiroshima) mit rund 13 und „Fat Man“ (Nagasaki) mit etwa 21 Kilotonnen. Der „geringe“ Wirkungsradius soll einen Einsatz taktischer Atomraketen in nicht allzu großer Entfernung von den eigenen Truppen erlauben. Nebenbei gesagt, kommt es darauf an, wie der Wind steht und ob er sich im falschen Moment dreht.
Außerdem ist das Adjektiv „taktisch“ eine Verniedlichung, keine Frage.Taktische Nuklearwaffen vermögen es, große Zerstörungen anzurichten und sie setzen eine Menge an Radioaktivität frei. Auch die Nato ging bei ihren Planspielen davon aus, dass taktische Kernwaffen kontrolliert eingesetzt werden können. Will sagen, dass ein Krieg nicht zu einem umfassenden nuklearen Schlagabtausch eskaliert, bei dem als zweiter stirbt, wer zuerst schießt. Das wäre dann wirklich Armageddon.
Man muss Putin zutrauen, dass er, mit dem Rücken an der Wand, zum letzten Mittel greift und eine Wende im Krieg mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen erzwingt. Genauso gut ist aber auch möglich, dass er zum Beispiel einen taktischen Sprengkopf in der Atmosphäre zündet und damit die Botschaft sendet: Entweder die Ukraine gibt jetzt sofort klein bei oder einer unserer 2000 Sprengköpfe kommt dort direkt zum Einsatz.
Was macht der Westen dann? Was kann er machen? Nuklear zurückschlagen? Werden die USA nicht, so viel ist klar. Armageddon, nein danke.
Aus Sorge um solche Konsequenzen hat der amerikanische Präsident, und der deutsche Bundeskanzler in dessen Gefolge, davon abgesehen, der Ukraine schwere Waffen zu liefern, mit denen russisches Kerngebiet erreicht werden kann. Reiz mir den Leu nicht, heißt es bei Schiller. Bloß nicht Putin übermäßig reizen, hieß die Einsicht.
Hoffen wir, dass sie fruchtet und Putins Drohung letztlich nur Drohung bleibt.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.